Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi muss weiter Kritik einstecken. Nach wichtigen Ökonomen wie dem Bundesbank-Präsidenten Jens Weidmann melden sich nun führende Arbeitnehmervertreter der Versicherungswirtschaft zu Wort. In einem Brandbrief an Draghi fordert die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG) eine Abkehr von seiner Liquiditätspolitik – „aus Sorge um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Lebensversicherung, die Sicherheit der Arbeitsplätze und das Altersversorgungsniveau der Bevölkerung“, wie es in dem Schreiben heißt.
Gießen, 15. Juni 2015 – Die NAG beklagt sich in dem Brief an Draghi über dessen Politik der Versorgung der Kapitalmärkte mit überbordender Liquidität und das Billionen-Euro-Aufkaufprogramm für Staatsanleihen. Als Folge dieser Politik sei zu beobachten, dass Zinsen für Staatsanleihen dauerhaft künstlich niedrig gehalten werden, und zwar auch da, wo eine dem Risiko entsprechende Bewertung durch die Kapitalmärkte einen höheren Zins erfordern würde.
Unterzeichnet ist das Schreiben von der Vorsitzenden der Gewerkschaft, Waltraud Baier. Ihr zufolge gilt für Staatsanleihen besonders sicher geltender Schuldner wie etwa der Bundesrepublik Deutschland inzwischen gar für zehnjährige Staatsanleihen ein Zins um null Prozent. Baier: „Das bedeutet einen Sparzins unterhalb der Inflationsrate – und selbst bei sehr langen Sparvorgängen realen Kapitalverzehr.“
Lebensversicherer seien, so Baier weiter, gesetzlich und moralisch gehalten, die Versichertengelder besonders sicher anzulegen. Bleibt es bei Draghis bisheriger Politik, werde ihnen aber die Kapitalanlagerendite immer weiter heruntergedrückt. Als Alternative bleibe den Versicherern nur die Flucht in wesentlich riskantere Anlagen. Sie aber dürfte kaum im Interesse der sparenden Bevölkerung liegen, so das NAG-Schreiben.
Wie die Verfasser weiter an Draghi schreiben, sorgten die Eigenkapitalanforderungen nach den Solvabilitätsvorschriften „Solvency II“ bei derartigen Niedrigzinsen zudem für einen erheblich steigenden Eigenkapitalbedarf der Lebensversicherer.
Nicht zuletzt sei die vorgeschriebene Bildung der Zinszusatzreserve zur dauerhaften Sicherstellung der Erfüllung der Versichertenansprüche bei extrem niedrigen Zinsen mit erheblichen Transaktionsaufwendungen verbunden.
Vielen deutschen Lebensversicherungen werde also ihre wirtschaftliche Perspektive entzogen, wenn Kapitaleinsatz und Kapitalertrag dauerhaft in derartige Missverhältnisse geraten. Die NAG befürchtet das Verschwinden vieler Lebensversicherer vom Markt und in der Folge den Abbau vieler tausend Arbeitsplätze.
Aber auch die Kunden der verbleibenden Versicherer hätten erhebliche weitere Absenkungen ihrer zu erwartenden Altersversorgung hinzunehmen.
Dies komme einer faktischen Enteignung der Lebensversicherungssparer in Deutschland gleich. Die NAG fordert Draghi in dem Brief auf, dieser durch eine maßvollere Politik der EZB Einhalt zu gebieten. Dies würde nicht nur die deutschen Lebensversicherungsunternehmen und die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern vor allem die vielen Millionen Kunden dieser Unternehmen mit Blick auf ihre Altersvorsorge wirtschaftlich wieder in einen angemessenen Zustand zurückversetzen.
Baier: „Ein Weiter-so bedeutet Insolvenzen, Arbeitsplatzverluste und Milliardeneinbußen in der Altersversorgung der Bevölkerung mit absehbaren Folgen nicht nur für den Wohlstand unserer Bürger, sondern auch für die Belastung der Staatskasse.“
Hintergrund: Die NAG ist die erste deutsche Spezialgewerkschaft für die Interessen der Beschäftigten im privaten Versicherungsgewerbe. Ihr Ziel ist es, die Beschäftigten in der deutschen Versicherungsbranche zusammenzuschließen, um mit ihnen und für sie ganz gezielt für die Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigten des Innen- und des Außendienstes einzutreten.
An einer solchen Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat es in der Versicherungswirtschaft bislang gefehlt. Zwar behauptet die Gewerkschaft für den Dienstleistungsbereich ver.di ihre Tariffähigkeit auch für die Versicherungswirtschaft, konnte aber dafür kürzlich vom Landesarbeitsgericht Hessen mangels belastbarer Mitgliederzahlen für den Versicherungsbereich keine Bestätigung erhalten.
Das Schreiben an Draghi im Wortlaut finden Sie hier. Weitere Informationen, Interviews und Fotomaterial auf Anfrage.