Jetzt hängt alles an Bundespräsident Joachim Gauck. Als letzte Instanz im demokratischen Gesetzgebungsverfahren muss er entscheiden: erlangt das Tarifeinheitsgesetz Gesetzeskraft oder nicht. In einem Offenen Brief fordert die Neue Assekuranz Gewerkschaft (NAG) Gauck auf, seine Unterschrift nicht unter das umstrittene Gesetz zu setzen. Tut er es doch, droht die Demokratie in unserem Land nachhaltigen Schaden zu nehmen.
Gießen, 22. Juni 2015 – Als Bundespräsident, so die Verfasser des Briefes, habe Gauck „das Recht und die Pflicht“, bei offenkundig verfassungswidrigen Regelungen einem Gesetz die Unterschrift zu verweigern. Unterzeichnet ist das Schreiben von der Vorsitzenden der Gewerkschaft, Waltraud Baier. Das Tarifeinheitsgesetz (TEG) sei ein solches Gesetz. Zahlreiche Verfassungsrechtler hätten völlig unabhängig voneinander die Verfassungswidrigkeit wesentlicher Bestimmungen darin reklamiert.
Das vom kleineren Koalitionspartner SPD eingebrachte TEG wurde vom Bundestag mit Mehrheit beschlossen, allerdings nicht von allen Abgeordneten der Großen Koalition. Obwohl nicht zustimmungspflichtig, votierte am 12. Juni auch der Bundesrat für das Gesetz. Es könnte nun voraussichtlich Anfang Juli in Kraft treten – es sei denn, der Bundespräsident als letzte Instanz im Gesetzgebungsverfahren weigert sich, es zu unterschreiben.
Selbst in Koalitionskreisen unumstritten und von Gauck kaum übersehbar ist, dass das Gesetz aus der Feder von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) eine Vielzahl handwerklicher Schwächen aufweist. Zu nennen wären hier insbesondere erkennbare Probleme und Umgehungstatbestände, die sich aus dem Anknüpfungspunkt „Betrieb“ ergeben und das notarielle Verfahren zur Ermittlung der größeren Gewerkschaft im Betrieb. Baier: „Es ist einfach hanebüchen, wie unprofessionell die Mutter und die Väter dieses Gesetzes zu Werke gegangen sind!“
Überdies zwingt das Gesetz sogenannte „Minderheitsgewerkschaften“ indirekt zur bloßen Nachzeichnung von Tarifverträgen anderer Organisationen. Damit würde das von Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz geschützte Streikrecht für diese Gewerkschaften außer Kraft gesetzt, so Baier in dem Brief an Gauck.
Zudem blieben als unausweichliche Folge des Gesetzes gewerkschaftliche Neugründungen und die Weiterentwicklung kleinerer Gewerkschaften faktisch für alle Zukunft ausgeschlossen. Baier: „Das wäre vollkommen inakzeptabel.“ Denn um Tarifverträge durchsetzen zu können, bedürfe es der Möglichkeit zum Arbeitskampf. Neu gegründete Gewerkschaften hätten schlechterdings zunächst immer eine geringe Größe. Dieses Gesetzesvorhaben sehe nun vor, dass sie deswegen keine im Betrieb wirksamen Tarifverträge mehr abschließen könnten. Baier: „Damit wäre die Koalitionsfreiheit in eine Koalitionsunfreiheit umgewandelt.“
Den Beschäftigten bleibt dann nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder den per Gesetz zu de-facto-Monopolisten beförderten DGB-Gewerkschaften beizutreten oder sich ganz zu entsolidarisieren. Baier: „Beides wäre der Demokratie in unserem Lande aufs Äußerste abträglich.“ Sie bezweifelt in dem Schreiben an Gauck „als oberstem Repräsentanten unseres demokratischen Gemeinwesens“, dass dies von ihm gewollt sein könnte.
Für den Fall, dass Gauck seine Unterschrift dennoch unter das umstrittene Gesetz setzen sollte, sieht Baier ein jahrelanges Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht voraus – mit Obsiegen der Gegner des Tarifeinheitsgesetzes. In der Zwischenzeit wären eine Vielzahl von Konflikten und eine wachsende Rechtsunsicherheit in den Betrieben in Kauf zu nehmen. Hinzu käme, dass die soeben bei der Deutschen Bahn getroffene Schlichtungsvereinbarung das Gesetz noch unmittelbar vor Inkrafttreten konterkariert hat. Baier: „Die Vereinbarung verlangt keine Tarifeinheit.“
Das NAG-Schreiben mündet in der Forderung an Gauck, dem Gesetz seine Unterschrift zu verweigern. Gauck solle das TEG stoppen und damit dafür sorgen, dass „nicht ein Tarifeinheitsgesetz Wirklichkeit wird, welches dem Grundgesetz zuwiderläuft und die Beschäftigten in ihrer darin garantierten freien Wahl ihrer Interessenvertretung nachhaltig beschneiden würde!“
Hintergrund: Die NAG ist die erste deutsche Spezialgewerkschaft für die Interessen der Beschäftigten im privaten Versicherungsgewerbe. Ihr Ziel ist es, die Beschäftigten in der deutschen Versicherungsbranche zusammenzuschließen, um mit ihnen und für sie ganz gezielt für die Arbeits- und Einkommensbedingungen der Beschäftigten des Innen- und des Außendienstes einzutreten.
An einer solchen Interessenvertretung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat es in der Versicherungswirtschaft bislang gefehlt. Zwar behauptet die Gewerkschaft für den Dienstleistungsbereich ver.di ihre Tariffähigkeit auch für die Versicherungswirtschaft, konnte aber dafür kürzlich vom Landesarbeitsgericht Hessen mangels belastbarer Mitgliederzahlen für den Versicherungsbereich keine Bestätigung erhalten.
Ver.di selbst weiß um ihre mitgliederzahlenmäßige Schwäche vor allem im Versicherungsbereich und steht auch deswegen dem TEG offiziell ablehnend gegenüber. Das hindert sie freilich nicht daran, gleichzeitig alle Hebel bis hin zu gerichtlichen Statusverfahren gegen die NAG und den gewerkschaftlichen Wettbewerb in Bewegung zu setzen. Während die NAG immer konsequent für gewerkschaftlichen Wettbewerb eintritt, offenbart ver.di hier eine ambivalente Haltung.
Das Schreiben an Gauck im Wortlaut finden Sie hier. Weitere Informationen, Interviews und Fotomaterial auf Anfrage.